Mit Erasmus+ in Finnland und Estland
In der ersten Dezemberwoche war die Schulleitung verwaist. Der Grund war nicht etwa ein krankheitsbedingter Ausfall des gesamten Teams. Nein. Auch Schulleitungen sollten sich hin und wieder Zeit nehmen und den eigenen Kosmos verlassen, um neue Perspektiven auf Schule und Schulentwicklung gewinnen zu können.
Vom 1. bis zum 7. Dezember waren wir, Herr Hesselschwerdt und Frau Posselt, als Schulleitungsteam auf Reisen im hohen Norden und haben im Austausch mit rund 30 weiteren Lehrkräften und Schulleitungen aus ganz Europa Schulen in Finnland und Estland besucht. Wir lernten die Besonderheiten der Schulsysteme beider Länder kennen und hatten darüber hinaus reichlich Zeit, auch etwas über die Schulsysteme der anderen teilnehmenden Lehrkräfte zu erfahren.
Estland und Finnland haben, wie die meisten anderen europäischen Länder, eine Gemeinschaftsschule, die von der ersten bis zur neunten Klasse geht. Bis zum Alter von ca. 15 Jahren lernen also alle Kinder und Jugendlichen gemeinsam. Erst danach entscheiden sich die Jugendlichen, ob sie weiter über eine schulische Oberstufe den Weg in die Universität anstreben oder über eine beruflich orientierte Schule einen praktischen Weg einschlagen wollen. In allen Fällen dauert die Schulzeit mit der schulischen Basisbildung von neun Jahren und dem anschließenden dreijährigen erweiterten Bildungsgang insgesamt 12 Jahre.
In Helsinki und Umgebung besuchten wir zunächst eine Grundschule, die die Schuljahre 1 bis 6 umfasst. Die Kinder lernen hier bereits früh neben Finnisch weitere Fremdsprachen. Die Lern- und Leistungsdokumentation erfolgt über E-Portfolios und die Lehrkräfte bereiten ihren Unterricht im Team vor. Rund 25% des Unterrichts wird in Englisch erteilt.
Am selben Tag waren wir an einer weiterführenden Sekundarschule im Umland von Helsinki zu Besuch, die die Klassen 6 bis 9 umfasst. Hier gibt es neben den regulären Klassen auch sogenannte Preparatory Classes, in denen Jugendliche ohne finnische Sprachkenntnisse einen intensivierten Sprachunterricht erhalten. Alle Jugendlichen haben neben dem staatlichen Curriculum zahlreiche Wahlmöglichkeiten und können auch praktische Fächer wie Technik oder Hauswirtschaft wählen.
In den finnischen Schulen fiel uns besonders der Fokus auf das Wohlbefinden aller am Schulleben Beteiligten und die multiprofessionellen Teams auf. Alle von uns besuchten Schulen sind mit bequemen und flexiblen Möbeln und Teppichboden ausgestattet und sowohl Kinder als auch Erwachsene tragen Hausschuhe. Es ist außerdem üblich, dass es es neben den Lehrkräften auch medizinisches Personal, Schulpsychologen und pädagogische Assistenten an den Schulen gibt. Sämtliche Schulmaterialien und das Mittagessen sind für die Kinder kostenfrei.
Interessant am finnischen Schulsystem ist, dass es praktisch keinen Lehrkräftemangel gibt. Der Beruf Lehrer/Lehrerin ist in der Gesellschaft hoch angesehen und viele junge Menschen wollen Lehrkraft werden. Die Atmosphäre in den Schulen haben wir als entspannt empfunden. Das Kind, sein Lernen und seine Bedürfnisse stehen im Zentrum aller Bemühungen.
Am Mittwoch, den 4.12. ging es dann mit der Fähre nach Estland. Hier durften wir an den folgenden beiden Tagen weitere Schulen besichtigen und am Unterricht teilnehmen. Auch hier erhielten wir sehr interessante Einblicke in das estnische Schulsystem mit seinen Besonderheiten und Herausforderungen.
Estland erzielte in den vergangenen PISA-Studien immer herausragende Ergebnisse, besonders im naturwissenschaftlichen Bereich.
Hier besuchten wir am Donnerstag, den 5.12. zunächst die 21. Schule in Tallinn, wo wir neben musikalischen Darbietungen auch Einblicke in eine gelungene Verbindung von altem und modernem Schulbau und in die dort sichtbar präsentierten besonderen Profile der Schule erhalten konnten. Der Educational Technologist der Schule gab uns Einblicke in die digitale Schulentwicklung und der Schülersprecher berichtete über seine Aufgabengebiete. Wir waren beeindruckt von der Vielfalt der Wahlmöglichkeiten an dieser Schule und dem großen Engagement der Schulgemeinschaft. Hier wird neben einer hohen Leistungsorientierung offenbar auch viel Wert auf gemeinschaftliche Erlebnisse gelegt. Die Schule organisiert nicht nur jahrgangsübergreifende Großprojekte, es gibt auch zahlreiche Veranstaltungen und die Präsenz der Schule bei repräsentativen Großereignissen hat einen hohen Stellenwert.
Am späteren Vormittag erhielten wir in den Räumen der Tallinn University Einblicke in die Besonderheiten des finnischen Schulsystems. Auch hier werden, wie in Finnland, das Essen, sämtliche Bücher und die Fahrtkosten vom Staat übernommen. Es gibt außerdem ein Learning Management System namens E-Kool, das für sämtliche Schulen kostenfrei zur Verfügung steht. Auch Probleme des estnischen Schulsystems wurden genannt: Es gibt einen Mangel an qualifizierten Lehrkräften und das Durchschnittsalter der vorhandenen Lehrkräfte ist vergleichsweise hoch. Die versprochene Gehaltserhöhung hat es nach der letzten Parlamentswahl nicht gegeben.
Nach dem Mittagessen in der Cafeteria der Universität fuhren wir mit dem Bus zu einer weiteren Schule in Tallinn, das Pae Gümnaasium. Auch diese Schule umfasst die Jahrgänge 1 bis 12 und wurde in der Vergangenheit bereits mehrmals für ihr besonderes Konzept des immersiven Fremdsprachenlernens ausgezeichnet. Einige Schülerinnen und Schüler führten uns in Gruppen durch das Gebäude und wir erhielten auch hier Einblicke in den Unterricht unterschiedlicher Jahrgänge. Später durften wir den Plakatpräsentationen zweier Schüler aus Klasse 10 und 11 lauschen und erhielten noch weitere Informationen zum Berufsprofil der Educational Technologists. Sie sind an vielen estnischen Schulen für die technische und pädagogische Pflege und Weiterentwicklung der digitalen Lernumgebungen zuständig.
Am Freitag ging es schließlich raus aus der Großstadt und wir fuhren mit dem Bus zu einer Schule im ländlichen Raum. Auch hierbei handelte es sich wieder um eine Gemeinschaftsschule mit den Jahrgängen 1 bis 12, die sich derzeit in einem großen Umbauprozess mit neuen Lernräumen befindet. Die Schulleiterinnen berichteten uns von ihrem Schulentwicklungsprozess und den Herausforderungen des ländlichen Raumes. Interessant war hier, dass regelmäßig ganze Jahrgänge ins Distanzlernen geschickt werden, da der Schule durch den Umbau Räumlichkeiten fehlen. Man kämpft jedoch auch hier – verstärkt durch die Lage im ländlichen Raum – mit dem zunehmenden Mangel an qualifiziertem Lehrpersonal und lebt in steter Sorge um die Schülerzahlen in der Oberstufe, da es hier eine Mindestzahl von 100 gibt. Besondere Einblicke erhielten wir durch das Gespräch mit einer erst kürzlich aus Deutschland eingewanderten Lehrerin, die hier für den Deutschunterricht zuständig ist.
Für uns war es nicht ganz einfach, uns eine abschließende Meinung über das estnische Schulsystem zu bilden. Wir hatten den Eindruck, dass schulische Leistung in der Gesellschaft einen hohen Stellenwert hat und Familien sehr viel Wert auf eine gute Schulbildung ihrer Kinder legen. Welche Auswirkungen aktuelle schulische Veränderungen haben werden, die auf politischen Entwicklungen beruhen, bleibt abzuwarten. Erst seit diesem Schuljahr wird Russisch als Unterrichtssprache von der Landessprache Estnisch sukzessive abgelöst. Dazu muss man wissen, dass ca. 25 Prozent der Esten russisch als Muttersprache sprechen und es es bislang auch rein russischsprachige Schulen gab.
Sowohl in Finnland als auch in Estland unterschieden sich die von uns beobachteten Unterrichtskonzepte überraschend wenig von unseren deutschen Vorstellungen eines „guten Unterrichts“. Alle Unterrichtsstunden waren mit Phasenwechseln aufgebaut, es gab Instruktionsphasen, Einzelarbeits-, Partner- und Kleingruppenphasen. In beiden Ländern gibt es darüber hinaus regelmäßige Projektphasen, in denen jahrgangsgemischt an Themen gearbeitet wird. Wenn man bedenkt, welche Diskussionen es hierzulande gibt, wenn man die Aufteilung der Kinder nach Klasse 4 in Frage stellt, muss man sich schon wundern, dass es dort überhaupt kein Problem zu sein scheint, wenn Kinder und Jugendliche bis zur Klasse 9 gemeinsam lernen.
Insgesamt war es hochinteressant und inspirierend, über den Tellerrand unseres deutschen Schulsystems zu schauen und finnische und estnische Schulen mit ihren Lehrerinnen und Lehrern sowie ihren Schulleitungen aus nächster Nähe erleben zu dürfen. Auch die Gespräche mit unseren europäischen Kolleginnen und Kollegen waren aufschlussreich So haben wir in nur einer Woche neue europäische Perspektiven über die Entwicklung verschiedenster Schulsysteme gewinnen können. Es bleibt festzuhalten: Gesellschaftliche Veränderungsprozesse, Migration und die rasante Entwicklung der Digitalisierung stellen uns alle vor große Herausforderungen. Auch die Klagen über die Einstellung und Haltung der Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern klangen vertraut. Es wird nur eine Lösung geben: Wir müssen weiterhin miteinander im Austausch bleiben und voneinander lernen. Danke für diese wunderbare Gelegenheit dazu Erasmus+